Folge 9: Kolumnen-Hijacking

Verehrte Leser!

Ein befreundeter Chefredakteur - nennen wir ihn Frank - vertraute mir neulich aus heiterem Himmel an, daß alles den Bach heruntergehe. Mehr noch: Niemand interessiere sich für Fakten, es gäbe keine Ehre mehr, nein - oder besser ja: die Zukunft gehöre skrupellosesten Menschen. Nehmen wir nun für einen Moment an, daß der gute Mann die Wahrheit spricht - und warum auch nicht! Mich persönlich stört das permanente kritische Hinterfragen einfacher Aussagen immens, vor allem, wenn es meine eigenen sind. Gehen wir also leichten Herzens davon aus, daß die gesamte Welt schlecht ist - einschließlich dieser Kolumne. Aber was bedeutet das? Als anspruchsvoller Leser erwarten Sie zu recht mehr als reine Trend-Berichte aus Rintheim. Sie fordern praktische Hilfestellung, um nicht im Ernstfall unverhofft auf der Gewinnerseite zu stehen. Begleiten Sie mich also auf einem kleinen Streifzug.

Zu den ersten Erkenntnissen, die eine schlechte Welt zu bieten hat, zählt die Gewißheit, sich auf wirklich nichts und niemanden verlassen zu können, am allerwenigsten jedoch auf sich selbst. Haben Sie eine Vorstellung, was das bedeutet? Ich nicht! Und genau darum geht es: Wissen Sie zum Beispiel, wer gerade diese Zeilen schreibt? Glauben Sie mir - wenn schon Sie im Dunklen tappen, habe ich erst recht keine Chance. In einer schlechten Welt - wir kommen direkt zur zweiten Erkenntnis - müssen Sie mein Unwissen selbstverständlich ausnutzen. Vielen Menschen leuchtet diese Maxime sofort ein, erfahrene Leser fragen allerdings zunehmend unverblümt: Warum? Und damit kommen wir zur Königsdisziplin: Weil sich die Chance auf ein perfektes Verbrechen bietet! Halten Sie sich nun auf keinen Fall mit der Frage auf, was Sie tun sollen - schon Immanuel Kant hat sich daran die Zähne ausgebissen. Wählen Sie ruhig das nächste Ziel, das Ihnen unter die Augen kommt, und schreiten Sie zur Tat: Entführen Sie diese Kolumne!

Die Durchführung eines solchen Projekts ist natürlich leichter als allgemein angenommen. Sie sollten jedoch auf ein, zwei Dinge achten. Gewöhnliche Hijacker haben meist ein konkretes Ziel - und am Ende ist man nur selten da, wo man eigentlich hinwollte. So etwas fällt auf. Das perfekte Verbrechen hingegen begeht der Connaisseur nur um seiner selbst willen. Blamieren Sie sich also nicht mit Forderungen wie der Befreiung Rintheims aus seiner selbstverschuldeten Unlesbarkeit. Im Gegenteil: Lassen Sie Ihre Lesegäste nicht merken, daß sie in der Hand von Entführern sind. Landen Sie pünktlich in Rintheim! Verabschieden Sie sich herzlich von Ihren Lesern! Und sagen Sie nichts über Ihre Tat - am besten in aller Öffentlichkeit! Ich verspreche Ihnen: Niemand wird bemerken, daß Ihnen Kolumnenentführungen im Grunde völlig egal sind.

Sie sehen: mit etwas Flexibilität, mit etwas persönlichem Einsatz hat auch die schlechteste aller möglichen Welten durchaus ihr Gutes. Es ist zum Verzweifeln - aber genau davon muß ich Ihnen abraten! Verzweifelte Menschen lesen keine Kolumnen - und wer sollte den Part dann übernehmen? Ich sicher nicht! Es ist Zumutung genug, für undankbare, möglicherweise kriminelle Leser wie Sie zu schreiben, und eine noch größere, die Entführung meiner eigenen Texte zu dementieren. Aber wenn ich meine Unglaubwürdigkeit erhalten will, bleibt mir keine Wahl. Warum sollten Sie also eine haben?

Nehmen wir aber zum Schluß einmal an, daß der erwähnte Chefredakteur sich irre und in Wahrheit alles den Bach hinaufgehe. Stellen Sie sich vor, daß wir im Tausendfränkischen Reich lebten! Würden wir dann noch Kolumnen lesen oder sogar entführen? Oder wäre uns die Klage über unsere Arbeit genug der Jammerei? Schreiben Sie mir Ihre Meinung: rintheim.direkt@web.de.

Herzliche Grüße aus Rintheim sendet Ihnen


Ihr badischer Beobachter