Folge 15: Sozialmaladismus

Verehrte Leser!

Krankenhäuser sind Orte der moralischen Erbauung. Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten kommen hier friedlich zusammen, um gemeinsam einem höheren Ziel zu dienen: der Vermehrung des Wohlstandes von Pharmaindustrie und Chefärzteschaft. Diese bedingungslose Selbstlosigkeit hat mich stets tief beeindruckt. Sie stellt unser Gesundheitssystem in eine Reihe mit den bewundernswertesten Leistungen der Menschheit, denken Sie etwa an den Bau der Pyramiden oder die Landung in der Normandie. Immer wieder haben sich die einen für das Wohlergehen der anderen geopfert. Wohl nur Betriebswirte und andere Rüpel überkäme hier kein Gefühl der Erhabenheit! Lediglich die Patienten stören das schöne Bild, vor allem die ohne private Versicherung. Ihre Stellung entspricht aber glücklicherweise bloß der des Siliziums in der Computertechnik: Sie sind notwendiger Rohstoff, sonst aber nicht weiter von Belang.

Der Gedanke, selbst unappetitlichste Degenerationsformen in klingende Münze umzuwandeln, ist natürlich nicht auf die Gesundheit des menschlichen Körpers beschränkt. Findigen Köpfen ist es längst gelungen, dieses überaus ertragreiche Konzept auch auf andere Bereiche des Zusammenlebens auszuweiten. So betrachten Konzernmediziner wie McKinsey oder Roland Berger jede Garagenfirma, jeden Mittelständler, jeden Großkonzern grundsätzlich als kranken Organismus, der nur durch außerordentlich teure und schmerzhafte Therapien vor dem Ende bewahrt werden kann. Diese Ansätze zahlen sich für die Therapeuten langfristig freilich nur dann aus, wenn es nie zur endgültigen Heilung kommt. Erfahrene Konzernmediziner infizieren Unternehmenspatienten daher bei jeder Therapie vorsorglich mit einem neuen schweren Leiden, das meist aber erst nach einer angemessenen Frist von ca. 2-3 Jahren mit voller Wucht ausbricht.

Einen noch weitaus höheren Grad an Elaboration haben in dieser Hinsicht die politischen Strukturen in Staaten mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung erreicht. Getrieben von dem Verlangen, den gemeinsamen Nutzen langfristig zu maximieren, teilt sich das politische Establishment meist in zwei Lager, die das stärkste Band überhaupt zusammenhält: unversöhnliche Gegnerschaft. Beide Lager schlüpfen abwechselnd in die Rolle von Therapie und Krankheit. Eine neue Regierung diagnostiziert bei Amtsantritt zunächst ein schweres gesellschaftliches Leiden und versucht dann, es mit ihrem Regierungsprogramm zu heilen. Nach rund einer Legislaturperiode wird es vom Wahlvolk peu-à-peu selbst als lebensbedrohende Krankheit erkannt und von der Opposition mit einem neuen Therapievorschlag abgelöst. Mitunter kommt es zu beinahe tödlichen Staatserkrankungen wie zum Beispiel im Großbritannien der 60er Jahre. Kenntnisreiche Parteiparasiten sind aber sorgsam darauf bedacht, ihren Wirt am Leben zu halten, auch wenn er durch sie meist schwere Schäden erleiden muß. Verzeihen Sie meinen Enthusiasmus, aber diese Voraussicht der doch blinden Evolution sollte uns alle mit nie endender Bewunderung erfüllen!

Zur höchsten Blüte ist der Sozialmaladismus in unseren Religionen gelangt. Hervorgetan haben sich hier natürlich insbesondere die beiden Weltreligionen mit dem ausgeprägtesten Gewinnstreben, also das Christentum und der Islam. In beiden gilt das Leben selbst als Krankheit, die nur durch ein einziges Mittel geheilt werden kann - nämlich den Tod. Weil der Strom der Lebenden aber nie versiegt, gedeihen auch die Religionen prächtig. Ihre Begeisterung für Sterbeprozesse aller Art drücken Anhänger beider Glaubensrichtungen allerdings durch vollkommen unterschiedliche Verhaltensweisen aus. Während die Christen ihre Gotteshäuser gern mit Abbildungen römischer Folterinstrumente schmücken, kleiden die Mullahs ihre Kinder und Jugendlichen bevorzugt mit hübschen Sprenggürteln. Diese Hinwendung zum Visuell-Nekrophilen kann heute als größte Gemeinsamkeit der globalen Ökumene und Zeichen der völkerübergreifenden Verständigung gedeutet werden. Wie Gott mir allerdings kürzlich mitteilte, strebt er mittelfristig eine etwas weniger konkrete Symbolik an. Wer's glaubt, wird selig!

Herzliche Grüße aus Rintheim sendet Ihnen


Ihr badischer Beobachter