Kunst kommt von Gönnen

Verehrte Leser!

Ein wenig Landwirtschaft hier und da kann nicht schaden, weder dem Industriestandort Deutschland noch dem Großstadtmagazin Incal. Ich darf Sie daher gleich zu Beginn bitten, sich ausnahmsweise einem eher ländlichen Themen zu widmen und sich eine typische Kuhwiese vorzustellen. Was sehen Sie? Gras, Kühe, Kuhfladen. So weit, so gut. Fügen Sie Ihrem geistigen Bild nun bitte noch einige hundert gut gekleideter Menschen hinzu, die herumgehen, die Fladen bestaunen und so mancher Kuh viel Geld für ihr Werk bieten. Eine surrealistische Szene? Durchaus nicht. Eine krankhafte Fantasie? Keinesfalls - sondern das metaphorisch ausgeschmückte Porträt einer Messe für moderne Kunst. Doch halt, was ist das!? Zwei Personen betreten die Wiese und scheinen nichts anderes im Sinn zu haben, als sie möglichst elegant zu überqueren. Wer mag das sein? Das, lieber Leser, das sind Sie und ich. Wir wollen den fleißigen Kühen eine Freude machen!

Halten Sie zunächst bitte Ausschau nach irgendeiner Dame, die Sie an eine Kursleiterin der örtlichen Volkshochschule erinnert. Jeans, Pulli, Brille ... Sie wissen schon. Nähern Sie sich etwas abwesend, aber zugleich höchst konzentriert ihrem Stand - denn durch diesen Code signalisiert man in Kunstkreisen unabhängigen Sachverstand. Betrachten Sie schweigend ihre Exponate (meistens stilisierte Figuren zwischen merkwürdigen Quadraten) und kräuseln Sie dabei leicht Ihre Stirn. Die Künstlerin wird in Ihnen nun den Experten erkennen und Sie sogleich in ein erfreulich unbewertbares Gespräch verwickeln. Zur Gesprächslenkung gibt es ein erprobtes Verfahren: Man denke sich ein beliebiges Wort aus, streiche den ersten Buchstaben und werfe das Ergebnis in die Diskussion. Turban ... minus »T« ... gleich »urban«, hervorragend! Loben Sie also die Urbanität ihrer Bilder. Entzückt von der neuen Perspektive auf ihr Schaffen wird Ihnen die Dame rund eine halbe Stunde lang Erläuterungen geben, die nicht einmal das (Alt-)Papier wert sind, auf dem sie nicht gedruckt sind. Doch seien Sie geduldig - auch Sportler müssen sich vor dem Wettkampf aufwärmen.

Ver(sch)wenden Sie meinetwegen noch weitere 10 Minuten darauf, beispielsweise die oszillierenden Bildebenen anzusprechen, die Sie so verwirren - allerdings höchstens auf syntaktischer Ebene verwirren. Das ist von größter Bedeutung, nur Anfänger reden heutzutage noch über Semantik! In dieser Phase dürfen Sie sich auf gar keinen Fall auch nur die geringste fachliche Blöße geben! Der allergrößte Fehler auf Kunstmessen ist, nachprüfbare Argumente vorzubringen. Lassen Sie es also! Anschließend sollten Sie sich allerdings nach größeren Taten umsehen und gekonnt zum nächsten Stand schlendern. Zur nächsten 08/15-Künstlerin? Wieder ein Gespräch über Urbanität, Selbsterfahrung oder ähnlichen Mumpitz? Wenn es Ihnen gefallen hat, gern. Wenn Sie die Bilder sogar mochten, warum nicht. Ich empfehle Ihnen allerdings, direkt über "Los" zu gehen und viertausend Mark einzuziehen. Gehen Sie in die Höhle des Löwen - gehen Sie zu Immendorff!

Immendorffs Stand müssen Sie sich wie einen kolossalen Kuhfladen auf der Wiese vorstellen, um den sich sämtliches fachkundiges Volk schart. Die Besucher stecken ihren Finger in den Haufen, kosten mit verzücktem Lächeln und loben die außerordentliche geschmackliche Dichte. Immendorff selbst sagt nichts dazu, er wirkt aufs Höchste gelangweilt. Diese Pose hat für uns Heutige nur deshalb etwas so außerordentlich Authentisches, weil sie natürlich durch und durch künstlich ist. Immendorff kennt sich aus, sogar ein bißchen in der Kunst. Versuchen Sie also gar nicht erst, ihn mit Urbanität & Co. aus der Reserve zu locken - er weiß Bescheid, vielleicht sogar mehr als Sie und ich. Offen gestanden empfinde ich Sympathie für seine Position. Muß man einer Kuh erzählen, woraus ihr Fladen besteht? Sie selbst weiß es gut genug und kann es ja doch nicht ändern! Reden Sie mit Immendorff also lieber über das Wetter oder die Lage an den Börsen, Themen also, die alle und niemanden interessieren. Er wird es Ihnen genauso danken wie die Nachwuchskünstlerin von vorhin. Und genau das war unser Ziel.

Haben Sie weitere Ideen, wie wir Eingeweihten die Menschen beglücken können? Schreiben Sie mir: rintheim.direkt@web.de.

Herzliche Grüße aus Rintheim sendet Ihnen


Ihr badischer Beobachter