Rintheim -
Reziprozität und Widerstand

Verehrte Leser!

Es ist oft beobachtet (und noch öfter behauptet) worden, daß die deutsche Geschichte seit Anfang des 19. Jahrhunderts im wesentlichen von und aus Berlin beeinflußt worden ist. In dieser Zeit hat uns die Stadt an der Spree einige höchst beeindruckende Superlative beschert: den unverständlichsten Denker der abendländischen Tradition, den verlustreichsten Krieg des 20. Jahrhunderts, den höchsten kommunalen Schuldenberg der Welt. Wenn es ein Motto der frechen Berliner Schnauze gibt, dann wohl »Auf Kosten!« - auf Kosten der Verständlichkeit, auf Kosten der Eleganz, vor allem aber auf Kosten anderer.

Erst im Jahr 1951 war mit der Berliner Narretei endlich Schluß. In diesem Jahr richteten wackere Bürger in Karlsruhe aus Notwehr das Bundesverfassungsgericht ein, um wenigstens dem ärgsten Unsinn des Berliner Denkens (das im Bonner Exil ja munter weiterging) Einhalt zu gebieten. Fortan hatte Karlsruhe am Ende immer Recht. Nun hat man nicht selten die Frage aufgeworfen, warum die wichtigsten Entscheidungen ausgerechnet in Karlsruhe gefällt werden müssen und nicht in Salzgitter oder Detmold. Die Antwort lautet: weil Karlsruhe so badisch ist.

Gewiß, das badische Denken mag Außenstehenden mitunter etwas bedächtig erscheinen (fragen Sie einen Karlsruher nie, warum das so ist - Sie warten ewig auf die Antwort!). Doch hier orientiert man sich stets an der Sache, denkt wirklich an die Bedürfnisse der Menschen. Und so wurde in Karlsruhe neben der Nähmaschine und dem Fahrrad auch das Frauenboxen erfunden. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen fällt es nicht mehr schwer, die badische Metropole Karlsruhe als Hort der bürgerlichen Vernunft zu deuten. Solange hinter der Berliner Glitzerpracht Karlsruher Geld steckt, werden badische Verfassungsrichter in allem das letzte Wort haben - meistens übrigens »Nein«.

Karlsruhe, zentral gelegen zwischen Muggensturm und Untergrombach, endet im Osten mit dem Stadtteil Rintheim, der im ganzen noch etwas badischer als Karlsruhe ist. Die Arbeitslosigkeit ist hier noch ewas niedriger, das Straßenbild etwas sauberer, das Badisch etwas breiter. Natürlich hat auch Rintheim Probleme, zum Beispiel Lärm. Morgens werden die unschuldigen Bürger von Vogelgezwitscher geweckt, mittags von lachenden Kindern gestört, die gerade aus dem renommierten Kant-Gymnasium kommen, und abends schließlich von Fahrradfahrern abgelenkt, die den idyllischen Finkenschlagweg entlangradeln. Wer also glaubt, Rintheim sei bloß eine Insel der Glückseligkeit und des Wohlstands, liegt falsch. Rintheim ist badisch, aber durchaus von dieser Welt. Und so war Rintheim letztlich schon immer der Gegenpol des Berliner Größenwahns, ein Symbol des intellektuellen Widerstands.

Aus dieser Tradition heraus werde ich an dieser Stelle künftig die wesentlichen Fragen der Moderne diskutieren, also etwa: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts? Wie kann ein Denker seinen schon beträchtlichen Ruhm in Sein und Zeit durch derartig unsinnige Fragen noch steigern? Warum muß man stets drei Fragen in den Raum werfen, um ernst genommen zu werden? Allermeistens werde ich dem geschätzten Betreiber dieser Plattform in wichtigen Fragen widersprechen, ohne freilich plausible Argumente vorzutragen. Genau genommen wird meine Position um so unhaltbarer ausfallen, je bedeutsamer die Fragestellung ist. In den seltenen Fällen, in denen der Betreiber und ich notgedrungen übereinstimmen, können Sie, liebe Leser, sicher sein, daß einer von uns falsch liegt. Grundsätzlich gilt aber, daß oft nicht einmal das Gegenteil der Behauptungen richtig ist, für die wir in diesem Forum mit vollem Ernst eintreten.

Nun darf ich noch die voraussichtlichen Themen der nächsten Ausgaben ankündigen:

Bitte beachten Sie abschließend, daß Incal zu den wenigen Kulturmagazinen gehört, die sich heute noch einen eigenen Rintheim-Korrespondenten leisten.

Herzliche Grüße aus Rintheim sendet Ihnen


Ihr badischer Beobachter